Hochsicherheitstrakt mit Wieterblick

Abschlussrede anlässlich der Entlassung des Abiturjahrganges 2019
von Jörg Uphaus


Eines muss ich zunächst erst loswerden: Nicht nur einmal ist mir während der Vorbereitung dieser Rede der unangenehme Gedanke den Rücken hochgekrochen, dass die Tatsache, mich mit dieser Aufgabe zu betreuen, auch eine Art Rache sein könnte für die unzähligen Klausuren, in denen Ihr so viel schwitzen musstet….
Aber nein, ich weiß, dass es nicht so ist und ich empfinde es als eine Ehre und Anerkennung, für die ich Euch herzlich danke.

Liebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten, sehr geehrte Eltern, Verwandte, Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nun ist es also geschafft: Nach ca. 2400 Schultagen, etwa 14.400 Unterrichtsstunden, einer Zeit mit zahlreichen Neuerungen, mit stark veränderten Lehrplänen und zentralen Prüfungsaufgaben, nach so vielen Änderungen haben wir heute etwas ganz Traditionelles vor uns, nämlich Ihre Abiturentlassungsfeier. Zum Bestehen der Abiturprüfung möchte ich Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, aber auch Ihnen liebe Eltern im Namen der Lehrerschaft des Corvinianum ganz herzlich gratulieren.

Ein solcher Tag und vor allem ein solch feierlicher Anlass lässt uns alle zurückblicken, nachdenken und erinnern. War es nicht erst neulich, dass wir mit der Schultüte für das Foto auf dem Schulhof standen?? Weißt Du noch, damals, 2011, wie wir ans Corvi gewechselt sind, fragen Sie sich und wie wir Lehrer in die erwartungsvollen und manchmal auch etwas zaghaften Gesichter geblickt haben. 2011, das war das Jahr, in dem mich viele von Ihnen mit zahnlosen Mündern angeguckt haben und meine sorgenvolle Frage, ob die Zähne denn wieder nachwachsen würden schon damals selbstbewusst bejahen konnten. Dies war auch die Zeit, in der viele von Ihnen, ohne sich bücken zu müssen unter den Tischen herlaufen konnten. Auch das hat sich, wenn ich Sie heute so anschaue – meistens – geändert.

Was hat sich noch geändert? Sie können sich heute i.d.R. selbständig die Schuhe zubinden, sie können sich ohne fremde Hilfe die Nase putzen, sie können die Uhr lesen und natürlich vieles mehr. Auch die Sprache hat sich geändert. Sprache entwickelt und ändert sich praktisch immer, auf gesellschaftlicher Ebene und auf individueller Ebene. „Ja, lol ey“ kann bspw. so etwas ausdrücken wie „ja gut“ oder „yolo“ könnte man übersetzten „mit was kostet die Welt“. Ich persönlich, Anbetracht Ihres Alters sozusagen ein Dinosaurier, verfolge diese Entwicklungen mit großem Interesse. Beispielsweise die vielfältige Verwendung des Wortes „Hä“, mit dem Unkenntnis, Unverständnis, Unwohlsein oder auch Amüsement von Ihnen ausgedrückt werden kann. Ich merke aber auch, wie es mir wohlig den Pädagogen- Rücken herunterläuft, wenn mir, wie in den letzten Wochen, Monaten oder manchmal auch schon Jahren geschehen, statt des „Hä“ ein „Wie-bitte" entgegenkam.
Erinnern werden Sie aber auch, so hoffe ich zumindest, eine Vielzahl an positiven Erlebnissen und Eindrücken, die in Ihrem Rückblick – und auch das hoffe ich - vielleicht sogar etwas mehr Raum einnehmen werden. Sie sind die letzten sog. G8er, um Sie hat man sich mit doppelter Klassenlehrerschaft insb. in den Jahrgängen 9 und 10 besonders gekümmert. Nikolaus-Party, slender man, Sportwettkampf oder das Krimi-Dinner – bleibende Erinnerungen. Unvergessen sind vielleicht auch die Klassen- oder Kursfahrten. Im Jahrgang 9 ging es nach Hamburg und Bremen, zwei Klassen segelten auf dem Ijsselmeer und ganz Tapfere fuhren mit Herrn Bruns und Frau Krause nach Garmisch. Das ist jetzt nicht nett: Ich meinte tapfer wegen der vielen Wanderei dort. In der Oberstufe ging es nach Wien und insgesamt vier Seminarfächer fuhren an den Gardasee und wie ich gehört habe, wurde bei diesen Kursfahrten insbesondere in Italien neben vielfältigen kulturellen Themen auch das Thema „Lesen der Uhrzeit“ noch einmal vertieft.

Unvergessen bleiben vielleicht auch die Erinnerungen an den tollen Applaus nach einer gelungenen Theater- oder Musikaufführung, tolle Erfolge beim Poetry Slam, den Debattier-Konkurrenzen, den Jugend trainiert für Olympia Wettkämpfen, die Skifahrten und Wandertage oder eben auch das gute Gefühl, das sich einstellt, wenn man mit viel Einsatz etwas wirklich Tolles erreicht hat – so wie bei Ihnen heute mit dem Erlangen des Abiturs.

Im Blick zurück sammeln die Abiturienten ihre Erinnerungen – vielleicht unbewusst - meistens in einem Abschlussmotto: Ihres lautet: „Abi looking for freedom“. Ja, ja dachte ich: Sprache wandelt sich, nachdem ich in den Restbeständen meiner Erinnerungen an die englische Grammatik gekramt hatte. In einem anderen pull-down Fenster meines Speichers - Digitalisierung lässt grüßen - poppte aber auch eine andere gruselige Assoziation auf. Sie müssen wissen, ich bin ein Fan von Henri Charrières Papillon, ein Buch in dem die Geschichte eines unschuldig Verurteilten Strafgefangenen erzählt wird. Vor meinem geistigen Auge verwandelte sich unser geliebtes Corvi in eine Hochsicherheitsanstalt , nicht mit Meer - aber mit Wieterblick. Schwitzend hing ich meinen Fantasien nach und sah Dutzende von Aufsehern in Anstaltskleidung, manche sogar in Sandalen, mit dicken Schlüsselbunden klimpern. Allmacht war gegenwärtig und mit besonderer Regelmäßigkeit wurden die Insassen bis zu dreimal pro Woche zu Hirnarbeit gezwungen. Es gab jährlich etwa zwei bis drei Besuchstage, an denen die Aufseher den Besuchern Grauenhaftes berichteten und diese sich dann erschüttert abwanden. Fluchtversuche, bspw. zur Schnalbelinsel, wurden von einem kahlköpfigen Oberaufseher im dunkelblauen Anzug ebenso unerbittlich geahndet wie generell unerlaubtes Entfernen von der Anstalt, auch wenn es in Dreiergruppen war.

Meine Frau tippte mir auf die Schulter – sie hatte sich über die gequälten Laute gewundert, die ich in meinem Tagtraum von mir gab. In der Ferne sah ich nur noch die roten Mauern des Gebäudes zwei verschwinden und von der Inschrift des Türeinganges nahm ich in meinem schwindenden Tagtraum nur noch schemenhaft die Wortfetzen Alcatraz wahr.

Puuh, nein, nein, das war es nicht und mit pädagogischer Akribie forschte ich nach weiteren Deutungsmöglichkeiten. „Looking for freedom“ war in die Zukunft gerichtet, dämmerte es mir und mit spitzbübischem Lächeln setzte ich die Elternbrille auf. Es ging um Freiheiten! Um künftige Freiheiten, vielleicht während des Studiums!? Wahrscheinlich die Freiheit zu entscheiden, wann und wie man die Wäsche wäscht oder den Kühlschrank wieder auffüllt. Oder, ob man abends mit dem Fahrrad zur Party fährt oder um 23.30 den letzten Bus nach Hause nimmt … nicht wahr liebe Eltern??? Nein, das war es auch nicht.

Langsam dämmerte es mir - hier war wieder voll ne semantische Neuschöpfung am Start. So ähnlich wie „Ich geh Stadt – kommst Du?" was man übersetzen kann mit „Ich möchte in die Stadt gehen, hast Du Lust mich zu begleiten??“ Hier also nun „Abi looking for freedom“ und wenn man Siri damit füttert kommt man schnell zu dem Chartbreaker aus 1989 „ I´ll be looking for freedom“ von Bay-Watch-Star David Hasselhoff, der im damaligen Stil der Zeit, mit Tanzbewegungen, die heute an Robotik erinnern, die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der gequält vom Reichtum seiner Eltern, nach neuen Entfaltungsmöglichkeiten sucht.
OOkaeeyy – ich wusste gar nicht, dass es unter Euch so viele Hasselhoff Fans gibt?? Der Klassiker wäre aus meiner Sicht ja „schools out forever“ von dem Zahnarztphobiker Cooper gewesen. Auf dem Weg zum Abi hätten viele vielleicht auch den Spruch „Abi- under pressure“ (David Bowie lässt grüßen) gewählt oder nach dem Mathe-Abi fühlten sich viele vielleicht auch dem Slogan „Abi – burning down the house „ von den Talking Heads näher.

Wie dem auch sei - über Geschmack lässt sich bekanntermaßen nicht streiten und ich weiß natürlich auch, dass es für Euch alle jetzt nicht darum geht, die Erfüllung abseits des schnöden Mammons zu finden wie in dem Lied von Hasselhoff geschildert. Mit dem Abitur habt Ihr tatsächlich alle Freiheiten, Euren beruflichen Werdegang selbst zu gestalten, eigenverantwortlich sozusagen, und dass ist in der Tat schwer genug.

Liebe Eltern, ich kann mir gut vorstellen, was in Ihnen vorgehen mag, wenn Sie die Fülle der neuen Möglichkeiten mit der Sorge, was ist gut für mein Kind filtern. Wenn Sie daran denken, wie es sein wird, wenn ihr Kind erstmals in einer eigenen Wohnung, vielleicht sogar in einer anderen Stadt wohnt. Wie kann ich weiterhin mein Kind unterstützen und wird es außerhalb der Hochsicherheitsanstalt Corvi auch so gut weitergehen, vor allem wenn das Abi eher Knabbi war, um mit den Worten der Radiomoderatoren Steffen und Felix zu sprechen.
Es ist also der Blick nach vorn, der Sie liebe Eltern nicht ganz so überschwänglich feiern lässt wie unsere Abiturienten. Dem Freiheitsgedanken der Abiturientinnen und Abiturienten stellen viele von Ihnen auch elterliche Sorge entgegen. Diese Sorgen aber, liebe Eltern, kann ich ohne Zögern entkräften, nicht weil mir in einem Anfall selbstbewusster Überschätzung die Fähigkeit zur Selbstkritik abhandengekommen ist, nein, weil ich die meisten der Abiturientinnen und Abiturienten aus dem Unterricht persönlich kenne.Ich kenne Sie als selbständige und verantwortungsbewusste junge Erwachsene, die kritisch und selbstkritisch bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Die mit ihren Talenten und Fähigkeiten, ihrem Engagement und Entdeckungsdrang tatsächlich ihre neuen Freiheiten werden nutzen können. Die mit ihrer Fröhlichkeit und ihrem Charakter den Beweis antreten werden, dass das Corvi, mit Ihrer tatkräftigen und oft auch sorgenvollen Unterstützung, liebe Eltern, dass unser Corvi trotz aller Umstände eben doch ein Raum ist, der jedem und jeder Platz und Freiheit bietet für die Entwicklung der Persönlichkeit, der persönlichen Vielfalt und ganz individueller Charaktere.
Freiheit ist nicht nur Freiheit, sondern auch die Pflicht zur Verantwortung und mit dem Abitur haben Sie sich zunächst auch eine Möglichkeit geschaffen, unsere Gesellschaft verantwortlich mitzugestalten, und ich wünsche Ihnen, dass Ihnen das gelingt. Mehr noch aber hoffe ich, dass sie Ihre persönlichen Zielsetzungen werden umsetzten können, und am besten noch mit viel Glück und Zufriedenheit. Bewahren Sie sich Ihren offenen Blick, Ihre Aufgeschlossenheit und Ihr Engagement und vergessen Sie beim Aufstieg auf den Gipfel Ihres persönlichen Erfolges aber auch nicht, dass es von einem Gipfel i.d.R. in alle Richtungen abwärts geht. Vor allem aber bewahren Sie sich Ihren Spaß und Sinn für Humor, der Sie, auch wenn’s mal nicht optimal läuft, sagen lässt: „Ja lol ey“.

Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute und „Abi? - take a walk on the wild side“. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Zurück