Ein außergewöhnliches Musikerlebnis

Der „Messiah“ von Georg Friedrich Händel gehört zu dem, was die christlich-abendländische Kultur prägte und bis heute prägt. Doch welchen Sinn hat die Kunst, wenn sie keinen Bezug zu den Menschen der Gegenwart hat? Dieser Frage stellte sich ein Musikvermittlungsprojekt von Kreiskantor Benjamin Dippel, das er gemeinsam mit Silke Lindenschmidt (Vision Kirchenmusik) leitete, und bei dem sich 90 Schülern des Gymnasiums Corvinianum Northeim ein halbes Jahr lang mit dem Oratorium interdisziplinär auseinandersetzen.
 

 

 
Die Arbeitsphasen im Schulchor und den Kunst-, Deutsch-, Religionskursen des 12. Jahrgangs mündeten in zwei besondere Veranstaltungen: den Einführungsabend am 8. Dezember, der den „Messiah“ auf ungewöhnliche Weise vorstellte und interaktiv erlebbar machte, und das große Konzert für Chor, Orchester und Solisten, das am vergangenen Sonntag in St. Sixti vor vielen gespannten Zuhörern aufgeführt wurde und durch die Videoperformance der Schüler eine zeitgenössische Interpretation fand.
 
Was bedeutet Händels Geschichte über das Leben und den Tod Jesu für uns und inwiefern berührt seine Musik auch heute noch? Dieser Frage gingen die Teilnehmer des Projektes „Messiah – Alte Geschichte mit neuen Texten“ nach und schufen so zum Teil völlig unerwartete Assoziationen. Eine besondere Form der Auseinandersetzung wagte der Deutschkurs, der auf Grundlage des Messiah-Librettos neue Texte entwickelte. Sie handeln vom Stress im Abitur, von Individualität und von Orientierung im Dunkel. Im Konzert wurden diese Texte, die in Zusammenarbeit mit Professor Paul Brodowsky von der Universität der Künste Berlin entstanden sind, per Videowand eingestreut in die Musik, die vom vom Schulchor des Gymnasiums Corvinianum zusammen mit der Kurrende und Kantorei St. Sixti gesungen und vom Barockorchester „la feste musicale“ unter der künstlerischen Gesamtleitung von Benjamin Dippel gespielt wurde. Abgerundet wurde alles durch die Solisten Julia Stratiros (Sopran), Alexandra Paulmichl (Alt), Christoph Rosenbaum (Tenor) und Roman Tsotsalas (Bass).
 
Wenn es Skeptiker gegeben haben sollte, die daran zweifelten, ob das alles zusammenwirken und dem großen Werk gerecht werden kann, so wurden sie an diesem Abend überzeugt. „Messiah“ war gleichermaßen ein Genuss für alle, die Händel verehren, wie auch eine neue und unerwartete Erfahrung mit Kultur und Kunst, die das barocke Oratorium plötzlich ins Hier und Jetzt und in die eigene Erlebniswelt holt. Die Assoziation, dass auch Gott in Christus in diese Welt kam, um uns zu erreichen, liegt nahe und mag gewollt sein, von den Projektinitiatoren und -teilnehmern oder gar von Händel selbst.
 
„Jeder geht seinen eigenen Weg und alle sind verstreut. Wir wissen nicht, wer neben uns steht, ob es um uns herum regnet oder schneit oder über welchen Stein wir als nächstes stolpern werden“, hieß es in einem der Texte, „Können wir uns tatsächlich ‚anders‘ nennen? In Zeiten der Massen, Massenproduktion, Massenkommunikation, Massenmedien?“ Und wenig später setzte der gewaltige Chor ein und sang: „Lift up your heads, O ye gates; and be ye lift up, ye everlasting doors; and the King of Glory shall come in.“ – „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe.“
 
Gerade in der St. Sixti-Kirche war an diesem Abend deutlich zu spüren, dass es sich beim „Messiah“ nicht nur um eine alte, sondern eine großartige und erhabene Geschichte handelt und bei den Texten nicht nur um neue, sondern um moderne und intensive, die zusammen ein außergewöhnliches und inspirierendes Musikerlebnis ergaben und die Kraft der Kunst neu erleben ließ.
 
Text und Bilder: Christian Dolle

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