Drei Tage lang Theater in der Stadthalle

4. März 2024

Drei Theateraufführungen an drei aufeinanderfolgenden Tagen gab es jetzt für insgesamt 1324 Schüler:innen der Jahrgänge 5-13 von drei Schulen des Landkreises in der Stadthalle Northeim. Das Ensemble des Jungen Theaters Göttingen spielte und war beeindruckt von der Aufmerksamkeit und den anschließenden Fragen der Zuschauenden.

Alle Stücke waren nach demokratiefördernden Aspekten ausgewählt, um Empathie, tolerantes Verständnis für kulturelle Unterschiede, soziale Verantwortung und Teilhabe sowie Selbstbehauptung zu fördern.

Erster Tag: Die Zertrennlichen für die Jahrgänge 5-7

Acht 5. Klassen, darunter drei vom Roswitha-Gymnasium Bad Gandersheim, sechs 6. Klassen und vier 7. Klassen sahen am Dienstag, 27. Februar 2024 das Stück "Die Zertrennlichen"(Les Séperables) des französischen Autors Fabrice Melquiot als szenische Lesung.

Das Stück erhielt 2018 in der Übersetzung von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand den Deutschen Kindertheaterpreis. Darin lernen sich in einem Hochhaus-Viertel die neunjährigen Romain und Sabah kennen. Sabahs Familie stammt aus Algerien, etwas, das Romains Eltern, gutsituierte, nationalistische Franzosen, schon aus Prinzip ablehnen. Als sich die beiden Kinder anfreunden, eskaliert der Konflikt, zwischen den Eltern, aber fatalerweise dann auch zwischen den Kindern. So zeigt das Stück auf, wie giftig Rassismus sich auf die Gesellschaft auswirkt. Susanne Rösch und Benjamin Kempf vom Jungen Theater Göttingen lesen und spielen die besondere, gefährdete Freundschaft der beiden Kinder mit vollem Einsatz.

Luna Baeker aus der 6d berichtet über das Stück:

Bei einem Abenteuer im Wald nähern sich die beiden Kinder an und werden unzertrennlich. Aufgrund der kulturellen Unterschiede und Fremdenfeindlichkeit gegenüber andersartigem Aussehen und Verhalten – auch als Rassismus bezeichnet – lehnen die Eltern von Romain die Familie von Sabah ab.

Romain sitzt häufig auf seinem Schaukelpferd und träumt sich in eine andere Welt. Auch Sabah, deren Eltern lieber einen Jungen gehabt hätten, sehnt sich in eine andere Welt, wo sie eine starke, unabhängige Sioux ist, dabei trägt sie eine Indianerfeder im Haar.

Als Folge der Freundschaft der beiden Kinder, die sich ineinander verlieben, entwickelt sich durch die Vorurteile der Eltern offene Feindschaft zwischen den beiden Familien, die auch in Gewalttätigkeiten eskaliert. Auch die Beziehung zwischen Romain und Sabah wird beeinträchtigt und der Kontakt bricht ab. Eines Tages zieht die Familie von Sabah weg, um dem Konflikt aus dem Weg zu gehen.

Nach elf Jahren ohne ein Wort miteinander gewechselt zu haben, hört Romain an seinem 20. Geburtstag bei einem einsamen Waldspaziergang den Namen von Sabah, erinnert sich an die Begegnung und versucht, sie im Internet zu finden. Im Glauben, Sabah dort wiedergefunden zu haben, erfährt er von einem tödlichen Verkehrsunfall des Mädchens, das er für Sabah hält. Somit scheint eine Versöhnung oder Fortsetzung der Jugendliebe der beiden, entgegen der großen Vorurteile und gegenseitigen Ablehnung der Eltern, unmöglich.

Deutschlehrerin Sabine Sommer fasst das Feedback der Klasse 6d zusammen:

Die Schülerinnen und Schüler empfanden die eher erwachsen wirkende Darstellung der beiden Kinder als realistisch, da diese ja schon früh auf sich allein gestellt gewesen sind. Auch der Zusammenhalt Sabahs und Romains gegen die Vorurteile ihrer Eltern wurde als überzeugend umgesetzt beurteilt, im gleichen Atemzug wurden aber auch die z.T. harte Sprache und die offen ausgesprochenen rassistischen Beleidigungen kritisiert.

Als gut und wichtig bewerteten die Schülerinnen und Schüler das direkt an das Stück anschließende Gespräch, in dem genügend Zeit und freier Raum war, um gemeinsam über das Stück und die Handlung zu sprechen. So konnten die Kinder verstehen, dass die Darstellung der rassistischen Verhaltens- und Denkweisen Vorhandenes mit Theatermitteln offen kritisiert und nicht gutheißt.

Obwohl die Kinder zunächst etwas enttäuscht waren, keine „richtige Inszenierung“ mit großem Bühnenbild und richtigem Schauspiel zu erleben, hat sich der Besuch in der Stadthalle auf jeden Fall gelohnt.

 

Zweiter Tag: Woyzeck von Georg Büchner für die Jahrgänge 10-13

Fünf 10. Klassen, vier 11. Klassen sowie 12 Kurse der Oberstufen von Corvi, Roswitha-Gymnasium und von der KGS Moringen sahen am 28. Februar 2024 eine mitreißende Inszenierung des Dramenfragments "Woyzeck" von 1836/37.  

Das Drama zeigt in loser Szenenfolge auf tragische Weise, wie der Protagonist Woyzeck durch Rücksichtslosigkeit und Lieblosigkeit anderer, aber auch durch Bildungsferne bindungsunfähig und handlungsunfähig wird. Büchner gelang es mit dem schmalen Drama, die Notwendigkeit sozialer Sicherungssysteme und einer grundlegenden Volksbildung zeitlos vor Augen zu führen.

Insbesondere der erschütternden Darstellung  der Woyzeck-Figur durch den aus Wien stammenden Darsteller Michael Johannes Meyer ist es zu verdanken, dass die rasante Inszenierung von Tobias Sosinka und Christian Vilmar restlos überzeugen konnte.

Im Nachgespräch erklärte der leitende Dramaturg des Jungen Theaters Göttingen, warum man die Anordnung der Szenen, Büchner selbst hatte sie im kurzen Schaffensprozess immer wieder anders angeordnet, so wie gesehen gewählt hatte: "Bestimmte Handlungselemente", so Christian Vilmar, "müssen zwingend in einer bestimmten Reihenfolge kommen: Erst muss zum Beispiel Marie den Tambourmajor kennenlernen, bevor Woyzeck eifersüchtig werden kann." Die Jahrmarktszene "Buden. Lichter. Volk" habe man an den Anfang gesetzt, weil Büchner sie erwiesenermaßen als allererstes verfasst habe. Zuschauer Fabio Peter bedankte sich dafür, dass er diese Szene, die er in einer Klausur habe analysieren müssen, nun endlich verstanden habe.

Die Darstellerin des Doktors, Dorothea Röger, ihr gelang eine aberwitzig überdrehte und dennoch authentische Darstellung der Schlüsselfigur, antwortete auf die Zuschauerfrage, wie man so böse spielen könne, ganz aus ihrer Rolle heraus: "Den Doktor freut es nun mal, wenn es ihm gelingt, den Woyzeck noch mehr zum Zittern zu bringen." Jens Tramsen , er gab einen widerwärtigen und zugleich glänzenden Tambourmajor, und Jan Reinartz, der einen brutal in sich ruhenden Hauptmann spielte, schilderten die Faszination der dunklen Figuren auf die Darsteller. Es wurde spürbar, welche starke Wirkung die ungehinderte Gewaltausübung der Figuren auf ihre Darsteller hat.

Dritter Tag: Qualityland für die Jahrgänge 7-9

Am 29. Februar 2024 sahen 400 Schüler:innen und Lehrkräfte eine grelle szenische Lesung von Mark-Uwe Klings Roman "Qualityland.

Bereits die aberwitzigen Maschinen des allgegenwärtigen Versandhandels "The Shop" machen deutlich, dass im Qualityland nicht alles Quality ist. Dem Maschinenverschrotter Peter Arbeitsloser bleibt nicht viel Freiheit für eigene Entscheidungen. Gegen die Parolen und Konsumverführungen seiner Zeit nimmt er den eigentlich aussichtslosen Kampf auf. Auch in dieser Inszenierung überzeugte das Ensemble mit seiner professionellen Darstellung in einem dystopischen Bühnenbild.

Im Nachgespräch gab es ausgesprochen positives Feedback für die eindringliche Darstellung. Es kam die Frage auf, ob die Darsteller:innen vom Publikum etwas mitbekommen oder gar von ihm beeinflusst werden. Jan Reinartz dazu: "Man sieht ja nicht viel vom Publikum beim Spiel, aber doch ein bisschen." Er wendet sich einem Zuschauer in der ersten Reihe zu: "Dich habe ich zum Beispiel beim Spielen gesehen und bei deinem konzentrierten Gesichtsausdruck gedacht: Jetzt erreiche ich ihn!"

Das Konzept "Theater für Schüler:innen"

Hinter den Theatertagen stehen die drei Schulen und ihre Fördervereine sowie der Förderverein der Stadthalle Northeim. Gemeinsam mit dem Schulträger, dem Landkreis Northeim, als Sponsor und Geldern der Initiative "Demokratie Leben" des Landkreises Northeim ermöglichen sie es mit ihren Fördergeldern, dass die Schüler:innen ganzer Jahrgänge kostenlos am Vormittag Theater erleben können.

Nico Dietrich, Intendant des jungen Theaters: "Allein, dass die Schüler:innen eine Zeit lang einfach zuhören und sich einlassen auf eine Handlung, die wahrhaftig vor ihnen gespielt wird, ist bereits ein großer Gewinn. Wir sind dankbar, dass der Förderverein der Stadthalle Northeim und die beteiligten Schulen sich auf das Großprojekt eingelassen haben."

Organisiert wurden die Theatertage 2024 von den Corvi-Lehrkräften Katja Fischer und Marco Wolff. Insgesamt waren 50 begleitende Lehrkräfte beteiligt, die nun die Theatererfahrungen mit ihren Lerngruppen auswerten.

Text: Wolff; Fotos: Kögel, Velinovski, Wolff

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