Bei Schreibwettbewerb ausgezeichnet

3. Juni 2023
 
#MachtText – unter diesem Motto haben das Göttinger Tageblatt und das Literarische Zentrum Göttingen einen Schreibwettbewerb für Schüler:innen ausgerufen. Die Fachgruppe Deutsch rief alle Corvinianer:innen auf, daran teilzunehmen.
 
Die ausgezeichneten Texte gibt es hier und (befristet) auf der Webseite des GT.
 
 
 
 
 
 
 
 
Nele Oppermann, 13. Klasse:
 
Blickwinkel
Die Welt, die ich seh‘ und wahrnehm‘ jeden Tag,
hat rein gar nichts zu tun mit dem, was man eigentlich so mag.
Überall Hass, Macht und Krieg -
gibt es jemanden, der so etwas wirklich liebt?
 
Und dass die Umwelt gerade zerbricht,
sag mir, siehst du das nicht?
Seh‘ das wieder mal nur ich?
Die Welt, die ich seh‘, hat so vieles zerstört
und denen, denen es am schlechtesten geht, am wenigsten zugehört.
 
Die Welt, die ich seh‘, ist von Menschen gemacht
und trotzdem nicht für Menschen gemacht.
Das, was ich seh‘, sind leere Gesichter und traurige Menschen,
die sich mit Alkohol und Drogen vom Alltagsstress ablenken.
 
Ich seh‘ ein Schulsystem, welches so lang‘ schon nicht mehr funktioniert,
und eine Jugend, die probiert und probiert und trotzdem nur verliert.
Ich sehe Menschen im Krieg, die nichts mehr haben außer sich.
Ich sehe Menschen, die genau diese Menschen hassen, doch warum genau eigentlich?
 
Ich versteh‘ es nicht. Der Hass ist groß, die Liebe klein -
sag mir, sehe ich das alles so ganz allein?
Die Welt, die ich seh‘, besteht aus Geld und Arroganz.
In dieser Welt kriegst du oftmals keine gerechte Chance,
und das macht einem verdammt nochmal Angst.
 
Und jetzt sagst du mir, ich sei nur ein Pessimist,
und dass die Welt wohl doch ganz anders ist.
Hier hat doch jeder genug zum Leben
und jeder kann alles erreichen, wenn er es schafft, nur alles zu geben.
 
Die Welt, die du siehst, die funktioniert,
da in deiner Welt niemand jemals die Fassung verliert.
Die Politik läuft in deiner Welt einwandfrei
und auch der Klimawandel ist längst gestoppt und vorbei.
 
Die Welt, die du siehst, strahlt vor Glück
und gibt jedem das, was er verdient, zurück.
In deiner Welt ist das größte Problem,
deinen Lieblingsheld im TV sterben zu seh‘n.
In deiner Welt existiert Gleichberechtigung schon seit ´ner langen Zeit
und die Bevölkerung ist eine richtig friedliche und voll Liebe gefüllte Einheit.
 
Krieg ist weit entfernt und du auch nicht in Gefahr.
Deine Welt scheint so wunderbar.
Du bist wohl ein Optimist,
doch du bestehst darauf, eins zu sein, ein Realist.
 
Wir alle sehen die Welt aus anderen Augen,
doch wie du sie siehst oder eben nicht siehst, ist für mich kaum zu glauben.
Viele neue Welten kreierst du nur in deinem Kopf und glaubst daran,
weil du vergessen willst, wie schlimm die Welt sein kann.
 
Und ich merke, zwischen deiner und meiner Welt liegen Welten.
Glaub mir: Ich wünschte eigentlich, dass deine neuen Welten auch in der Realität gelten.
 
 
Imma Harm, Klasse 5m:
 
In der neuen Welt - Das große Erlebnis
Ben war ein ganz normaler Junge. Das dachte er zumindest, bis ihm dies passiert ist. Es war ein wunderschöner Morgen. Bens Wecker klingelte. Ben blieb noch ein wenig liegen, denn er musste um halb sechs aufstehen. Er ging verschlafen zu seinem Kleiderschrank. Ben war noch so müde, dass er vor lauter Müdigkeit gegen den Schrank lief. Er fiel hin. „Aua!!“, rief er. Es tat so weh, dass Ben auf dem Boden liegen blieb und in den Spiegel guckte, der an der Wand hing. Langsam wurde ihm schwindelig, und er sah nur noch lila Streifen. Bens Augen fielen zu. Er versuchte seine Augen aufzumachen, aber es ging nicht.
 
Kurz darauf wachte Ben in einer alten Hütte auf. Er hatte Angst, denn überall standen Roboter. Er blinzelte einmal, und die Roboter waren nicht mehr zu sehen. Ben war sich nicht sicher, ob er sich die Roboter nur eingebildet hatte oder ob sie wirklich dagewesen waren. Ben war ein sehr mutiger Junge, deswegen stand er auf und ging aus der Hütte heraus. Es gab keine großen weiten Wiesen oder prächtige Bäume, sondern nur gigantisch große Fabriken. Ben erschrak, als er dies sah. „Nur große Fabriken, Roboter und kein Stück Natur mehr! Das ist ja fürchterlich!“, dachte Ben. Eine erschreckende Entdeckung. Das alles war Ben zu viel. Er lief wieder zu der Hütte zurück. Dort sah er einen rostigen alten Kasten. Der Kasten war ungefähr so groß wie Ben. Er sah sich den Kasten genauer an und erschrak. Auf dem Kasten stand „VIOLETT DIAMOND“! Von der gleichen Marke war auch Bens Spiegel. Jetzt wurde ihm alles klar: Er war zeitgereist, mithilfe seines Spiegels, den er heute Morgen wahrscheinlich zu lange angeguckt hatte. Er musste irgendwie wieder in die normale Welt kommen, denn Ben wusste, dass er in der Zukunft gelandet war.
 
Der geniale Plan
Ben brauchte unbedingt einen Plan! „So kann es echt nicht weiter gehen“, murmelte er. Er dachte darüber nach, wie er wieder in die Gegenwart kommen könnte. Langsam wurde es dunkel und Ben bekam noch mehr Angst als er sowieso schon hatte. Was, wenn er kein Essen finden würde? Oder wenn er verdurstete? Er wusste zwar, dass es um die Ecke eine Art Supermarkt gab, aber es gab nur Roboter und keine richtigen Menschen. Die Roboter würden ihn als Außerirdischen betrachten, wenn er in diesen Supermarkt ging. Etwas später fand Ben am Standrand ein paar verwilderte Beerensträucher. Er wusste zum Glück genau, welche Beeren man essen konnte und welche nicht. Er aß die Beeren, die zum Glück sehr saftig waren und auch seinen Durst etwas löschten. Er wollte erst einmal genauer gucken, was die Roboter alles so machten. Dadurch konnte er vielleicht wichtige Informationen über sie erhalten und somit hoffentlich einen Weg finden, um wieder nach Hause zu kommen.
 
Das Roboterlabor
Ben lief erstmal zu dem Supermarkt und versteckte sich. Schon liefen zwei Roboter an ihm vorbei. Ben folgte den beiden. Er hörte die Roboter sprechen. „Nun haben wir diesen kleinen Menschen zu uns teleportiert, um ihn zu untersuchen und Versuche mit ihm zu machen, aber wo ist er? Wie müssen ihn finden!“ Als Ben dies hörte, erschrak er und bekam höllische Angst. Was wäre, wenn die Roboter ihn zu Kleinstück verarbeiten würden?? Der eine Roboter sagte: Hoffentlich findet er den Trank nicht, womit sich Menschen in Roboter verwandeln können und den wir auch täglich nehmen müssen, um Roboter zu bleiben.
 
Plötzlich gingen die Roboter in ein Gebäude. „The Planet of technology“, stand auf dem riesigen Computer, der auf dem Gebäude war. Ben ging unauffällig hinter den Robotern her. Er versteckte sich hinter irgendwelchen Metallteilen. Die Roboter gingen in einen Aufzug und sie fuhren irgendwo hin. Wenigstens hatte Ben jetzt genug Zeit, sich das Gebäude genauer anzugucken. Er wusste, dass dieses Gebäude ein Labor war. Plötzlich kam ihm ein Gedanke!! Vielleicht könnte er hier den Trank finden, der einen zum Roboter macht? Also fing Ben an, danach zu suchen. Er huschte durch den Raum und quetschte sich an die Wand, in der Hoffnung, dass er nicht entdeckt würde. Plötzlich hörte er Schritte, die sich irgendwie anhörten, als hätte jemand Metall unter den Füßen. Er hielt den Atem an. Er wusste, dass ihn gleich der Roboter sehen würde und es aus mit ihm wäre. Er wollte wegrennen, aber seine Beine waren wie eingefroren. Die Schritte kamen näher. Ben hätte am liebsten aufgeschrien, aber er konnte sich gerade noch so zurückhalten. Im letzten Moment ging der Roboter durch eine Tür.
 
„Puh, Glück gehabt!!“, dachte Ben und atmete auf. Er ging weiter durch den Raum. Dann sah er eine violette Flasche auf einem Tisch. Leise und vorsichtig schlich er dorthin. „Vielleicht ist es dieser Trank, mit dem man sich zum Roboter verwandeln kann?“, dachte Ben aufgeregt. Er stand vor dem Tisch. Er nahm sich unauffällig die Flasche. Auf der Flasche stand: „Mensch-Roboter (Wirkung 1 Tag)“ Ben wusste, dass das seine einzige Möglichkeit war, um aus dieser Welt zu entkommen. Also schnappte er sich die Flasche, ohne groß nachzudenken. Er trank ein Schluck. Seine Beine taten weh, und er konnte sich nicht mehr bewegen. Überall tat das Metall weh. Er war jetzt für einen Tag ein Roboter!
 
Ben hatte schon einen Plan. Er wollte so tun, als ob er ein Roboterkind sei, das in diese Stadt gezogen ist. Schon kam ein Roboter. Ben musste sich ganz unauffällig verhalten, damit die Roboter nichts merkten.
 
„Na du Kleiner? Wer bist du?“ Ben musste schnell überlegen. „Hallo, ich bin neu in dieser Stadt!!“, sagte er. „ Wo ist deine Elterneinheit?!“, fragte der Roboter. „ Ähm… also meine Elterneinheit…ist - der ist der Prozessor durchgebrannt!!! Das ist so traurig!“, murmelte Ben verlegen. Der Roboter blickte ihn starr an. „Wir suchen einen kleinen Menschen, den wir mithilfe unserer Zeitmaschine hierher teleportiert haben. Hilf uns, ihn zu finden!“
 
Ben erschrak! Aber er hatte eine Idee: „Könnte dieser Mensch denn wieder aus dieser Zeit fliehen? Was müssen wir tun, um dies zu verhindern?“, forschte Ben nach. „Warum willst du das wissen?“, fragte der Roboter zurück. Ben antwortete: „ Wenn ich weiß, wie er wieder in seine Zeit zurückkommt, kann ich dazu beitragen, das zu verhindern.“ „Das haben wir jetzt nicht verstanden“, antworteten die Roboter kalt. Ben erklärte: „Wenn dieser Mensch zum Beispiel einen Trank braucht, um in seine Zeit zu kommen, dann verstecke ich natürlich den Trank vor ihm. Deswegen brauche ich Informationen“, sagte Ben. Also fing der Roboter an zu erzählen: „Um wieder in seine Gegenwart zu kommen, müsste er einen roten Knopf auf der Zeitreisemaschine drücken und den Code 20122011 sagen. Aber das ist unbedingt zu verhindern!“ „ Ok! Ich mache mich sofort auf die Suche und werde euch diesen Menschen bringen!“, sagte Ben. Er machte sich auf den Weg, und merkte sich die ganze Zeit die Zahlen: „20122011“.
 
Die Zeitreise
Als er wieder in der Hütte angekommen war, ging er sofort zur Zeitreisemaschine. Er drückte den roten Knopf und sagte: „20122011“. Er hörte lautes Poltern. Wieder sah er lila Streifen. Er wurde durch die Luft gewirbelt. Plötzlich lag er vor seinem Spiegel in seinem Zimmer. „Es hat geklappt!!“ Ben war noch nie so glücklich. Er warf den Spiegel schnell in den Müll, denn in einer Welt voller Roboter wollte er nicht leben.
 
 
Ramona Krüger, 12. Klasse:
 
Verborgene Fähigkeiten
„Schau mal, da ist sie wieder.“ - „Es ist Hochsommer, wieso trägt sie das immer noch?“ Das waren nur zwei der Kommentare, die Kaida heute morgen zu hören bekommen hatte. Und es waren noch die harmlosesten, wenn man die letzten Monate betrachtete.
 
Und es waren schon die absurdesten Theorien entwickelt worden, warum sie jeden Tag einen weiten, schwarzen Umhang trug. Sie selbst hielt es kaum darunter aus, hier in der Sonne, bei dreißig Grad. Aber es war besser, wenn niemand ihr Geheimnis kannte.
 
Anfangs hatte sie es noch unter weiter Kleidung verbergen können, doch es war schnell zu groß geworden. Und so schleppte sie sich Tag für Tag durch diese Hölle namens Schule. Kaida stand abseits der anderen, ihren Koffer neben sich und den Umhang fest um ihren schlanken Körper geschlossen. Ein warmer Sommerwind fuhr ihr durch die hüftlangen, roten Haare und erinnerte sie daran, warum sie diese Ausgrenzung hinnahm. Der Wind war ihr Freund und er ließ ihre Stimmung innerhalb weniger Sekunden steigen, egal wie schwer der Tag zuvor gewesen war. Und egal, wie schwer die folgende Woche auf Klassenfahrt auch werden würde, sie würde auch diese überstehen.
 
Der Bus fuhr auf den Schulhof ihres Gymnasiums. Von dort aus würden sie über Göttingen nach Frankfurt fahren, und dann in einem Flugzeug nach Schottland. Es könnte eine herrliche Woche werden, wenn sie alleine dort wäre. Nur war sie es nicht. Obwohl sie sich so fühlte, denn als der Bus sich mit ihren Mitschülern füllte, blieben die Sitzplätze in ihrer Umgebung leer.
 
Und so sah sie aus dem Fenster, beobachtete, wie zunächst noch die ländliche Gegend an ihr vorbeizog und dann der Asphalt der Autobahn unter ihr lag. Kaida hatte lange überlegt, ob sie diese Reise überhaupt antreten sollte. Es war ein Risiko, und sie konnte nicht sagen, dass sie sich auf eine Klassenfahrt freute. Aber ihre Mutter hatte gemeint, es könne schließlich nicht sein, dass sie sich vollständig abgrenze, nur weil sie sich damals einen langjährigen Traum erfüllt hatte. Vielleicht hätte sie damals noch ein drittes Mal überlegt, ob sie es wirklich wollte. Vielleicht hätte sie das, wenn sie gewusst hätte, wie ihr Leben danach aussehen würde. Aber sie hatte es nicht gewusst, und ihre Entscheidung war nicht mehr umkehrbar. Es war auch besser so, denn sonst wäre diese Klassenfahrt ein Desaster geworden.
 
Als sie nach gut zehneinhalb Stunden endlich am Hotel ankamen, verzog Kaida sich sofort in ihr Einzelzimmer. Bei der Zimmereinteilung hatte sich jeder geweigert, sie aufzunehmen. Sie hatten ihrem Lehrer eindeutig gesagt, dass sie eher auf die Klassenfahrt verzichten würden, als mit ihr in denselben vier Wänden schlafen zu müssen. Kaida vermutete, dass sie übertrieben hatten. Eine Fahrt nach Eyemouth in Schottland würden sie sich nicht entgehen lassen. Aber abgesehen davon, traute sie ihnen alles zu. Aber so weit war es ja zum Glück nicht gekommen. Sie hatte ihr Einzelzimmer und somit hatten alle ihre Ruhe. Langsam packte sie ihr Gepäck aus und verstaute es in den Schränken. Sie hatte all das mit, was auch die anderen dabei hatten: Kleidung, Hygieneartikel, Schuhe... und einen zweiten Umhang. Er war nicht wie normale Umhänge. Er bestand aus zwei separaten, dicken Schichten. Eine äußere, die man beim Tragen sah, und eine größere innere Schicht, die mit einer Schnalle versehen war. Sie hatte ihn selber verändert, damit er ihren Bedürfnissen entsprach. Den zweiten, den sie gerade trug, ließ sie weiterhin an. Zwar waren die Gardinen zu, und auch ihre Tür hatte sie abgeschlossen, aber an fremden Orten fühlte sie sich einfach nicht wohl.
 
Die ersten Tage verliefen so, wie Kaida es sich vorgestellt hatte. Es regnete viel, nur selten kam die Sonne zum Vorschein. Wenn sie in der Gruppe unterwegs waren, hielt sie sich im Hintergrund und versuchte, sich an der Umgebung oder den Attraktionen zu erfreuen, die sie besuchten. Das Schloss war atemberaubend und sogar das Denkmal war nicht so langweilig, wie sie gedacht hatte. Allerdings hatte sie Probleme, als sie in Gruppen die Innenstadt erkunden durften. Niemand wollte mit ihr kommen. Und so blieb sie alleine bei ihrem Lehrer und unterhielt sich mit ihm. Er war wirklich nett und behandelte sie nicht anders, als er es vorher getan hatte. Genau das respektierte sie am meisten an ihm.
 
Die Nachmittage, die sie zumeist im Hotel verbrachten, waren immer wieder eine Herausforderung für sie. Die anderen trafen sich in ihren Zimmern und machten eine Party, während sie alleine war und las. Es waren Fantasiegeschichten, die mochte sie am meisten. Gerade ging es um einen Jungen, der in eine andere Welt gelangte und dort ein Geheimnis aufdeckte. Sie wäre jetzt auch gerne in einer anderen Welt und nicht hier, auf...
 
„Sind alle da?“ fragte ihr Lehrer und riss Kaida somit aus ihren Gedanken. Sie musste definitiv aufhören, an die unschönen Stunden der vergangenen Tage zu denken. Denn heute würden sie zum Meer fahren. Aber nicht an den Strand, sondern an eine Klippe, die für Touristen ausgelegt war. Und pünktlich zu diesem Ausflug schien die Sonne. Dem Lehrer schallte ein vielstimmiges „Ja!“ entgegen, und erneut stiegen sie in einen Bus und fuhren los. Es dauerte zum Glück nicht lange, bis sie endlich ankamen. Sie hielten an einem Wald und dessen typischer Geruch wurde durch den Regen der vergangenen Tage noch verstärkt. Gemeinsam folgten sie einem Trampelpfad, der sie zur Klippe führte. Es war schlammig und rutschig, schon nach wenigen Metern waren Kaidas Schuhe die reinste Sauerei. Aber für den Ausblick hatte es sich allemal gelohnt.
 
Am Horizont fuhren einige Schiffe über das Meer, unter ihnen schlugen Wellen gegen die Klippen und einige hundert Meter weiter brüteten Möwen und Basstölpel an den Felswänden. Und über all dem lag das stete Heulen des Windes. Mehrere ihrer Klassenkameraden waren wie auch sie überwältigt und rannten sofort an den Rand, um hinunterzusehen. „Geht nicht zu weit nach vorne!“ rief ihr Lehrer, doch niemand hörte auf ihn. Stattdessen traten immer mehr an den Rand und spuckten hinunter. Und dann geschah das Unausweichliche. Kaida bemerkte es zuerst. „Geht weg da!“ rief sie, doch ihre Warnung kam zu spät. Ein Teil der Klippe gab unter dem Gewicht eines Jungen nach und fiel in die Tiefe. Die meisten konnten sich noch retten, als immer mehr Erdbrocken abbrachen, doch der Junge schaffte es nicht rechtzeitig. Er rutschte weg und verschwand schreiend in der Tiefe.
 
„Elias!“ Ihr Lehrer rannte auf den Abgrund zu, blieb in sicherer Entfernung stehen und spähte vorsichtig nach unten. Und dort hing er, nur eine glitschige Baumwurzel in der Hand. „Holt mich hier raus!“, schrie Elias verzweifelt und sah panisch nach unten. Der Wind peitschte die Wellen noch immer gegen die Felsen, einen Sturz würde er nicht überleben. Sofort organisierte ihr Lehrer eine Menschenkette aus den drei stärksten Jungs ihrer Klasse. Er selber legte sich auf dem Bauch an den Rand und streckte seine Hand nach Elias aus, während die anderen ihn an den Füßen festhielten. Doch er kam nicht heran und unter ihm brachen weitere Brocken ab.
 
„Reich mir deine Hand!“ Elias reckte sich, doch er schaffte es nicht und rutschte noch ein Stück weiter an der Wurzel ab. „Ich kann mich nicht mehr lange halten!“ Seine Stimme klang panisch und erstickt. Er hatte selber keine Hoffnung mehr, den Tag zu überleben. Kaida stand abseits der anderen und konnte nicht glauben, was gerade geschah. Es dauerte viel zu lange, bis sich ihr Gehirn wieder einschaltete und sie wusste, was sie zu tun hatte. So schnell es ging, öffnete sie ihren Umhang und schälte sich auch aus der zweiten Schicht. Darunter: Ihr Geheimnis. Zwei Federschwingen, groß und braun und stark genug, sie in die Luft zu tragen. In diesem einen Moment waren ihr die Meinungen ihrer Mitschüler egal. Sie musste Elias retten, und wenn sie danach als Monster abgestempelt wurde, dann war das eben so.
 
Und so verschwendete sie keinen zweiten Gedanken, schmiss ihren Umhang auf den Boden und rannte auf die Klippe zu. Erst als sie über den Rand sprang, bemerkte die anderen sie. „Kaida, nicht!“ Doch ihr geschah nichts. Sie entfaltete ihre Flügel und der Wind fuhr darunter und trug sie, wohin sie wollte. Sie flog zu Elias und blieb vor ihm in der Luft stehen. Sein Gesicht wäre zu jedem anderen Zeitpunkt Gold wert gewesen, doch gerade verschwendete sie daran keinen Gedanken. Sie streckte ihre Hand zu ihm aus, um ihn zu packen und wieder auf sicheren Boden zu bringen, doch genau da rutschte er ab und fiel noch weiter in die Tiefe.
 
Kaida reagierte schnell, ließ sich fallen und packte ihn rechtzeitig am Handgelenk. Sein Gewicht zog sie kurz gefährlich weit in die Tiefe, doch dann fing sie sich und schaffte es, ihn nach oben zu ziehen. Dort wichen die anderen vor ihnen zurück, damit Kaida landen konnte. Elias sank sofort kraftlos auf dem Boden zusammen, starrte sie aber weiterhin fassungslos an. Als das Adrenalin jetzt langsam aus ihrem Körper wich, bemerkte Kaida die Blicke der anderen in ihrem Rücken. „Also das hast du darunter versteckt.“ Der Satz kam von ihrer ehemaligen Freundin, und Kaida nickte. „Ich bin eine Testperson der Uni Göttingen. Sie hatten es mir bei meinem Praktikum letztes Jahr angeboten und ich habe angenommen.“ Sie zuckte mit den Achseln, wollte und durfte auch nichts genaueres über das Projekt erzählen.
 
„Damit wären wohl all unsere Theorien falsch.“ Es waren inzwischen mehrere Wochen vergangen, seit sie von der Klassenfahrt zurück waren. Kaida versteckte sich nun nicht mehr und zeigte, wer sie wirklich war. Die Geschichte, wie sie Elias das Leben gerettet hatte, war wie ein Lauffeuer durch die Schule und dann durch die ganze Region gegangen. Sogar die Nachrichten hatten mit ihr Kontakt aufgenommen. Es war praktisch unmöglich geworden, sich zu verstecken. Aber sie fand es besser so. Denn nun war sie frei. Und obwohl sie noch immer in der gleichen Welt lebte, fühlte sie sich, als hätte sie eine neue Welt entdeckt. Eine neue Welt, in der sie sein konnte, wer sie wirklich war.
 
 
Annika Babuschkin, Klasse 11e:
 
Das Land des Sandmanns
Kurz vor dem Ende des Daches sprang der dunkle Schatten des Diebes vor ihm in die Luft und flog für einen Moment über die Dächer der Stadt. Mit aller Kraft sprang er ihm ein weiteres Mal hinterher. Seine Tuchmaske war ihm im Gesicht verrutscht, und so war er für die Dunkelheit nun erkennbar. Der Schatten hob erneut in die Lüfte, doch genauso schnell fiel er wieder. Er war vom Dach gesprungen. Etwas entriss ihm den Halt. Verzweifelt versuchte er einen Ziegel, eine Lücke, eine Rinne, irgendetwas zu greifen, das ihn vor seinem sicheren Verderben bewahren sollte. Sein Körper fiel wie eine leblose Puppe über das Dach.
 
Und doch fiel er länger als er zunächst gedacht hatte. Er hätte längst auf dem Boden aufkommen sollen, doch er fiel immer tiefer und tiefer. Die Dunkelheit umschloss ihn. In seinen Ohren hörte er die Stimme des Mannes. Es war dasselbe hämische Lachen, das er bei der Verfolgung stets im Kopf hatte. Wie ein Echo wurde es lauter und wieder leiser. Dann spürte er wieder etwas unter seinem Körper. Der Aufprall verschlug ihm den Atem. Alles in ihm schrie nach Ruhe, nur für eine Minute. Doch das konnte er nicht zulassen. Jede Sekunde, in der er sich seiner Umgebung nicht bewusst war, bestand für ihn Lebensgefahr.
 
Endlich öffnete er die Augen. Seine Finger krümmten sich zusammen und ertasteten feine Sandkörner. Es waren schwarze, raue Körner. Er bekam wieder Kraft und konnte sich mühsam aufrappeln. Weit oben, so weit oben, dass er das Loch nicht erkennen konnte, trat ein wenig Licht ein, erhellte die Sanddüne, auf die er gefallen war. Mit zitternden Beinen tapste er langsam herunter, doch er konnte nicht weitergehen. Das Licht war nicht stark genug und so sah er nichts als schwarzen Sand.
 
Ob sich etwas Lebendiges im Schatten versteckte, was nur darauf wartete, dass er sich der Finsternis hingab? Er war in Lebensgefahr. Manchmal genoss er es förmlich, mit dem Leben zu spielen, sei es sein eigenes oder das der anderen. Da war sie wieder. Die Stimme des Mannes. Sie kam von rechts, von links, von überall. Ein nicht endendes Echo dieser ekelhaft rauchigen Stimme. Er schrie, doch sein Schrei verstummte in der Ferne. Es war kein Genuss mehr, es war verrückt. Er wollte wegrennen. Alles war besser, als diesem Lärm weiter standzuhalten.
 
Seine Beine übernahmen die Kontrolle, und er begab sich ins Unbekannte. Der Sand gab unter seinem Gewicht nach und so stolperte er, doch er lief weiter. Je tiefer er in die Dunkelheit rannte, desto weniger hörte er das Lachen. Blindlings stolperte er über etwas größeres als Sand. Er kam im dreckigen Schlamm auf. Neben ihm lag ein weiterer Körper, entstellt und totgrau. Vor Schreck wich er zurück und stieß auf eine zweite Leiche, diese noch brutaler zugerichtet als die andere. Schmerzensschreie und Schlachtgebrüll erfüllten seine Ohren. Breite Männer in Metallrüstungen massakrierten sich gegenseitig mit blutigen Schwertern. Dabei unterschied gerade er sich von den anderen Kämpfern: Keiner außer ihm trug einen halb zerrissenen Umhang, jeder außer ihm trug eine vollständige Ritterrüstung und jeder bis auf ihn war mit Blut und Verletzungen übersehen.
 
Hier galt das blanke Überleben. Also zückte er das Schwert der Leiche hervor. Allein seinen Reflexen hatte er es zu verdanken, dass er soeben einem Schwert ausgewichen war. Der Gegner brüllte wütend und holte ein zweites Mal aus. Geschmeidig blockte er ab und stieß den Fremden von sich, doch er sah, wie die Kräfte seines Gegners schwanden. Das Gewicht des Schwertes setzte ihm zu und sein Arm versagte. Den Moment der Pause nutzte er aus und durchbohrte die Brust. Dabei sah er zu, wie das Leben aus den Augen des Sterbenden wich und nur noch ein entsetzter, starrer Blick zurückblieb. Keuchend lächelte er. Diesen Moment sah er Tag für Tag. Es war für ihn ein Lob, wenn die Opfer mit einem schockierten oder gar entsetzten Blick starben. Das waren immer diejenigen, die es am wenigstens erwartet hatten. Doch die Freude wirkte kurz; plötzlich blieb ihm der Atem weg. Als er nach unten schaute, ragte die rotersäufte Schwertspitze aus seinem Bauch heraus. Bevor er realisieren konnte, was mit ihm eigentlich geschah, war das Schwert verschwunden. Beim zweiten Einstechen war die Wucht so enorm, dass er nach vorne fiel. Schwer atmend schreckte er hoch.
 
Es war alles nur ein Traum. Die Schlacht, das Blut, der Kampf, er hatte nur schlecht geträumt. Doch etwas stimmte nicht: Er lag in seinem alten Bett im Kinderzimmer. Mehr als ein Jahrzehnt war vergangen, dass er das letzte Mal hier geschlafen hatte. Noch vom Traum benebelt, stand er auf und schwankte durch das Zimmer. Er hätte schwören können, dass er weit entfernte Schreie gehört hatte. Irgendwas spielte sich am Fenster ab. Noch nie hatte es mitten in der Nacht so eine rötliche Farbe angenommen wie jetzt. Verwirrt runzelte er die Stirn. Langsam schleppte er sich zu den bodenlangen Seidenvorhängen. Kurz darauf bereute er, die Vorhänge zur Seite gezogen zu haben.
 
Der Horizont brannte in meterhohen Flammen, der Himmel hatte sich rot verfärbt. Die früheren Häuser vor seinem Fenster waren bis zur Asche abgebrannt. All das, was er mit seinen Kindesaugen gesehen hatte, war zerstört worden. Da hörte er sie wieder; die Stimme, diesmal tiefer und ernster als das bisherige Lachen. Sie klang so ruhig, während er weiterhin auf den Horizont blickte. „Willkommen im Land der Träume. Im Land des Sandes. Im Land der Geschichten.“
 
Das Fenster zersprang, Glasscherben fielen zu Boden. Die Flammen machten sich wie brennende Tentakel den Weg durch das Fenster frei und verschlangen alles, was sich in den Weg stellte. Mit großen Schritten versuchte er einen Abstand, eine gewisse Sicherheit, zwischen sich und die Flammen zu bringen. Doch er kam gegen die Wand. Wieder und wieder schlug er gegen sie, als würde sich jeden Moment etwas ändern. Er würde sterben, die Hitze stieg ihm zu Kopf. Nach dem dritten Schlag gab die Wand plötzlich nach, und er fiel. Was er zunächst für einen Traum gehalten hatte, war nun eine blanke Wiederholung.
 
Er fiel durch die Dunkelheit und landete auf der schwarzen Sanddüne. Dieses Mal sah er ein Paar Stiefel, die nur wenige Zentimeter vor ihm standen. Verwundert wich er zurück und erkannte den dunklen Schatten des Mannes wieder. Überraschenderweise war der Mann deutlich kleiner als er, dafür geschickter und stärker. Die Kapuze verbarg das unbekannte Gesicht, doch trotz des Stoffes erkannte er das schelmische Lächeln, das ihn förmlich anfunkelte. Wie eine Katze schlich er um ihn herum und musterte ihn. „Willkommen im Land des Sandmanns“, hauchte er ihm ins Ohr. „Was meinst du?“ Die Augenbrauen des Mannes stiegen vor Verwunderung in die Höhe. „Bist du nicht beeindruckt? Von meiner Kraft? Von meiner Macht, die ich über dich hatte, als du dich so gefürchtet hattest?“ Der Mann schaute auf und plötzlich erkannte er ihn.
 
Die Augen glühten in der Dunkelheit golden auf wie Scheinwerfer. Wie einem fallenden Schleier sah er dem Sandmann, dem Herr der Träume, in die Augen. Alles in seinem Körper zitterte vor Angst. Der Sandmann amüsierte sich genüsslich an seiner Reaktion. „Oh ja, du könntest es sein.“ „Ich verstehe nicht“, erwiderte er kläglich. „Du hast etwas, was ich will, mein Junge.“ Jetzt war der Sandmann ihm so nah, dass er jede einzelne Goldschuppe erkennen konnte, die sich zusammen wie eine Maske über seine Augen zogen. „Was ist, wenn ich dir sage, dass du dem Tod ins Gesicht lachen kannst? Es kann dein Leben verändern, wenn du dich nicht mehr um dein eigenes sorgen musst. Wäre deine Arbeit nicht viel einfacher, wenn du nicht mehr getötet werden könntest?“
 
Er war ganz Ohr. „Ich könnte dir helfen.“ Der Sandmann blieb direkt vor ihm stehen. Seine goldenen Augen durchdrangen seine Seele. „Ich könnte dir meine Unsterblichkeit anbieten. Du wärst frei, du müsstest nicht mehr auf das Leben anderer leben. Wäre das nicht ein Traum?“ „Wo ist der Haken?“, fragte er. Verdutzt starrte der Sandmann ihn an. „Es gibt immer einen Haken bei sowas.
 
"Was muss ich dir im Gegenzug geben?“ „Ach, nicht viel“, sagte der Sandmann schulterzuckend. „Du hast das Privileg, das ich einst verloren habe. Du hast die Kraft zu sterben.“ Bis jetzt hatte er es noch nie als Kraft angesehen. Der Sandmann streckte ihm seine Hand entgegen. „Schenk mir deine Sterblichkeit, und ich mache dich unsterblich… mit allem Drum und Dran.“
 
Er überlegte. Er überlegte wirklich. Und schlug ein. „Mögen deine Träume dir zu Füßen liegen.“ Plötzlich konnte er sich nicht mehr lösen. Seine Adern leuchteten golden auf, genau wie die beim Sandmann. Der goldene Staub in seinem Gesicht verblasste, stattdessen bekam er Falten, die ihn wie einen gebrochenen Mann aussehen ließen. Verzweifelt versuchte er sich von seinem Griff zu befreien, doch vergeblich. Etwas fühlte sich in ihm anders an. Als hätte man etwas in ihm ersetzt. Der Mann ließ von ihm los. Mit gekrümmtem Rücken und zittrigen Händen konnte er sich kaum mehr auf den Beinen halten. Von oben löste sich dann seine Kapuze auf, dann sein Kopf, sein Oberkörper. Feine schwarze Sandkörner sammelten sich auf dem Boden zu einem Haufen, während der alte Mann sich auflöste, als hätte es ihn nie gegeben.
 
Das Licht über ihm durchflutete den ganzen Raum. Er kniff die Augen zusammen. Es wurde eine riesige Landschaft sichtbar, der Sand verwandelte sich von einem dunklen Schwarz in ein leuchtendes Gold. Als seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, erkannte er am Horizont ein riesiges Schloss, dessen Türme in den Himmel ragten. Dieses Werk strahlte pure Macht und Reichtum aus. Der Himmel war mit vielen flauschigen Wolken verziert, doch beim näheren Hinschauen erkannte er, dass sich in den Wolken Bilder abspielten. Bilder von fliegenden Tieren, Einhörnern und magischen Wesen; alles, was sich ein Kind je erträumen könnte.
 
Er wusste, wer er nun war, und wer er sein unsterbliches Leben lang sein würde. Willkommen im Land des Sandmanns.

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